Mittwoch, 29. Mai 2013

Kapitel 7 - Der erste Schritt zur Sucht

 Dieses Kapitel enthält triggernden Inhalt. Wer sensibel auf das Thema Selbstverletzung reagiert, sollte nicht weiterlesen!



 Es war Samstag. Heute Abend sollte die Party stattfinden und ich war aufgeregt wie sonst was. Ich hatte Mira darüber in Kenntnis gesetzt und hatte sie fragen wollen, ob sie mitkam. Aber sie war bereits ausgeflippt, als ich ihr die Einladung gezeigt hatte. Ich verstand sie irgendwie, aber andererseits wollte ich Kristin und ihren Leuten eine Chance geben. Es konnte ja auch sein, dass es ihnen wirklich leid tat. Immerhin waren sie auch nur Menschen. Und ich glaubte an das Gute in ihnen. So wie ich es schon immer getan hatte.
Jedenfalls stand ich jetzt ziemlich ratlos vor dem Schrank in unserem Zimmer und starrte die kleine Auswahl an Klamotten an. Das war alles so Party untauglich, was auch daran lag, dass ich noch nie gern feiern war. Aber wenn dies meine Chance sein sollte, mich einzufügen, wollte ich sie nicht vorüberziehen lassen. Schließlich griff ich zu einem schwarzen, knielangen Rock und lieh mir von Mira ein langärmliges Top, das dazu passte. Während ich mich fertig machte, hatte ich ständig den skeptischen Blick meiner Mitbewohnerin im Nacken. Manchmal war ich knapp davor, sie zur Schnecke zu  machen. Ich war schon nervös genug und sie ging mir zusätzlich auf die Nerven. Nachdem ich mich eine halbe Stunde mit dem Lockenstab gequält hatte, warf ich ihn frustriert aufs Bett. Meine Haare sahen einfach nur mies aus. Normalerweise war es mir ja egal. Aber nicht, wenn ich einen guten Eindruck machen wollte. Also wusch ich sie nochmal und föhnte sie dann einfach aus. Dünne Haare, wie Federn waren einfach bescheiden zum Stylen.
“Mein Gott, Freya. Denkst du nicht, du übertreibst das alles ein bisschen? Es ist nur eine Party. Noch dazu mit Menschen, die du eigentlich doch gar nicht magst”, versuchte Mira schließlich noch einmal, mich zur Vernunft zu bringen. Stur wie ich war, wollte ich das nicht hören.
“Lass mich doch einfach”, entgegnete ich also etwas zickig und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Abwehrend hob sie die Hände und schmiss sich aufs Bett, ihre Miene sagte deutlich: Du wirst schon sehen, was du davon hast. Hätte ich nur auf sie gehört.

Eine Stunde später war es soweit. Mir war vor Aufregung richtig schlecht, als ich in den Aufenthaltsraum runter ging. Eigentlich herrschte auf dem ganzen Gelände Zigaretten- und Alkoholverbot. Aber spätestens um 21 Uhr waren alle Lehrer zuhause und der Aufsichtsmensch war laut Danielle fast stocktaub. Noch heute stelle ich mir die Frage, warum der Lehrerrat eine fast taube Person als Aufsicht einstellt. Auf halben Weg kam mir Danielle entgegen. Sie sah umwerfend aus. Neben ihr kam ich mir vor, als würde ich einen Kartoffelsack tragen, aber das Gefühl hatte ich in Gegenwart anderer Leute ohnehin fast immer.
“Hey, Freya”, begrüßte sie mich mit einem Lächeln und hakte sich bei mir unter. Sofort fühlte ich mich etwas ruhiger. Alles war wie immer, alles würde gut werden.
“Hey, Dani. Du siehst super aus”, verkniff ich mir nicht ihr zu sagen, “ich meine, das tust du immer, aber jetzt eben ganz besonders.” Ich hörte mich an wie eine verdammte Schleimerin, aber sie sah wirklich super aus.
Danielle lachte leise und schüttelte den Kopf, wobei ihr perfekt gestyltes, glänzendes Haar schwungvoll über ihren Rücken glitt: “Quatsch, das liegt alles nur am Kleid. Aber du siehst auch klasse aus.” Ich nahm ihr Kompliment eigentlich nicht ernst, sagte aber höflich danke und lächelte leicht. Wir erreichten den Aufenthaltsraum letztendlich, in dem schon viel los war. Die Musik war meiner Meinung nach absoluter Schrott, aber das behielt ich für mich. Geschmäcker waren ja bekanntlich verschieden. Eine Gruppe von Leuten saß neben dem Flipperautomaten und unterhielt sich lautstark, alle hatten eine Bierflasche in der Hand, schienen aber schon ziemlich angeheitert zu sein. Kristin und Philippe saßen auf dem Sofa und knutschten- was aussah, als würden sie sich gegenseitig auffressen. Einfach eklig. Angewidert wandte ich den Blick ab. Danielle ließ meinen Arm los und stürzte sich ins Getümmel. Ich stand alleine da, immer noch in der Tür und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Die meisten in diesem Raum waren meine Klassenkameraden, aber dennoch fühlte ich mich total fehl am Platz. Ich gehörte hier nicht hin, ich sollte im Bett liegen und ein Buch lesen.
Aber da ich jetzt schon mal hier war, konnte ich auch versuchen, mich zu integrieren. Etwas zögernd ging ich also in den Raum und schnappte mir eine Bierflasche. Eigentlich hasste ich Bier, es war mir viel zu bitter. Aber etwas anderes gabs hier nicht, also musste ich mich damit begnügen. Wie ein Schatten schlich ich an den Leuten vorbei und versuchte Gesprächsfetzen aufzuschnappen, damit ich irgendwo einsteigen konnte. Das gelang mir aber nicht und ich fing an mich zu fragen, ob ich vielleicht vom Mars oder so kam, weil ich keine Ahnung hatte, wovon die alle redeten. Etwas grimmig verzog ich mich in eine Ecke und beobachtete die anderen stillschweigend. Tolle Party. Aber ich war sowieso kein Fan von Parties, vielleicht genau aus diesem Grund.
Eine Stunde und zwei Flaschen Bier später, saß ich auf der Couch, so weit weg wie möglich von Kristin, und beobachtete wie Danielle und Marissa mit drei Jungs Wahrheit oder Pflicht spielten. Aber es war nicht dieses Kinderspiel, sondern etwas..nennen wir es erwachsener. Pflicht hatte immer irgendwas mit Küssen oder ausziehen zu tun. Wahrheit mit persönlicheren Fragen. Es war recht spannend, ihnen zuzuhören und definitiv war es amüsant. Da kamen Dinge ans Licht, die man ihnen gar nicht zutraute. Irgendwann kam Marissa auf die Idee, dass ich mitspielen sollte. Im ersten Moment war ich ziemlich perplex darüber, aber auch angeheitert genug, um mich darauf einzulassen. Also setzte ich mich zu ihnen auf den Boden und spielte mit. Weil ich so feige war, entschied ich mich anfangs immer für Wahrheit. Ich hatte kein Problem damit, ehrlich auf Fragen zu antworten. Doch irgendwann wurde es den anderen Leuten zu langweilig und Marissa forderte Pflicht von mir ein. Es gefiel mir überhaupt nicht, aber ich wollte auch kein Spaßverderber sein, also nickte ich.
“Alsooo, dann darfst du jetzt...Marc küssen”, erklärte Marissa mit einem breiten Grinsen. Marc war der zweite Junge der Clique. Mit ihm hatte ich noch nie viel zu tun gehabt und er hielt sich meistens auch eher im Hintergrund. Ich sah ihn an und bemerkte, dass er dem genauso abgeneigt, wie ich es war. Auch wenn es wohl aus anderen Gründen war als bei mir. Ich hatte noch nie jemanden geküsst, meine zwei Beziehungen waren über Händchenhalten nicht hinausgegangen. Er hingegen musterte mich mit einer Mischung aus Herablassung und Abscheu, die ich schon von allen kannte. Aber es war ja nur ein kleiner Kuss, dachte ich, und ließ mich darauf rein. Ich beugte mich nach vorne und er auch- und schüttete mir den Inhalt seiner Bierflasche über das Oberteil. Einen Moment lang war ich zur Salzsäule erstarrt und konnte mich nicht rühren, während ich Kristin und ein paar andere Leute schon lachen hörte.
“Oh, das tut mir aber leid”, sagte Marc und klang alles andere als entschuldigend und seine Miene war äußerst schadenfroh. Lustigerweise war mein erster Gedanke gar nicht die Demütigung, die ich hier erlebte. Mein erster Gedanke war: Das ist Miras Top.
Ich sprang auf und wollte Marc anschreien, doch dazu kam ich nicht. Als mir bewusst wurde, dass alle lachten, wurde ich hochrot und musste Tränen zurückhalten, von denen ich gar nicht wusste, dass sie da waren. Obwohl mir ein ganzer Schwall von Worten auf der Zunge lag, sagte ich nichts. Ich machte kehrt und ging zügigen Schrittes auf die Toiletten zu.
“Oh, der Wal ist nass. Gehört sich das nicht so für Meerestiere?”, hörte ich von hinten irgendwo. Vor Wut fing meine Hand an zu zittern und ich pfefferte die leere Bierflasche auf den Boden, wo sie in Splitter zerbarst. Ich war wütend, gleichzeitig aber auch einfach nur gekränkt und verletzt.
“Ihr seid so verdammt scheiße!”, zischte ich und flüchtete aus dem Raum. Ich knallte die Tür hinter mir zu und hörte ihr Gelächter. Es tat so weh. Ein Außenseiter zu sein, das war nichts Neues für mich. Auch nicht das gemobbt werden. Aber diese ganz absichtliche und schmerzhafte Demütigung war zuviel. Es hinterließ einen tiefen Schnitt in meinem Inneren. Für viele mag das übertrieben klingen, aber genauso hatte es sich angefühlt. Ich kam nichtmal bis zu meinem Zimmer, als meine Beine mir den Dienst versagten und ich auf dem Flur heulend in die Knie ging. Ich heulte so sehr, dass ich keine Luft mehr bekam und mein Kopf hämmerte, ich heulte so sehr, dass mein Körper zitterte wie Espenlaub. Doch der Schmerz in meinem Inneren klang nicht ab, stattdessen fühlte ich mich überflüssig und wertlos wie noch nie. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Mira mich nur aus Mitleid so behandelte, wie sie es tat. Ich hatte nicht erkannt, dass es ihr ernst mit unserer Freundschaft war.
Irgendwann konnte ich aufhören, Tränen zu vergießen und rappelte mich immer noch zitternd auf. Nun wieder etwas wütend zerrte ich mir das Shirt über den Kopf und stapfte den restlichen Weg nur in Bh und Rock zum Zimmer.
Mira schlief schon, als ich es erreichte und ich schlich mich leise in unser Bad. Ich sah so zerstört aus, wie ich mich fühlte, der dumpfe Schmerz wühlte immer noch in meinem Inneren. Ich schloss die Badezimmertür hinter mir und zog mich aus, um zu duschen, wobei mein Kopf vor Schmerz leer war und das war ziemlich gut.
Als ich fertig war, zog ich mein Nachthemd über und putzte mir die Zähne. Dabei fiel mein Blick auf die Schublade, in der wir Schere und Pflaster aufbewahrten. Ein wahnwitziger Gedanke schoss mir in den Kopf. Ein Gedanke, der erneut alles veränderte. Was, wenn ich meinen inneren Schmerz mit anderem Schmerz überdeckte? Wie ferngesteuert zog ich die Schere aus der Lade. Besah sie mir, drehte sie in den Händen. Überlegte. Fuhr mit dem Finger über die Klinge. Führte sie mit einem mulmigen Gefühl in der Bauchgegend zum Arm und starrte wieder einfach nur. Mein Herz raste vor Aufregung so sehr, dass es mir fast aus der Brust sprang. Was wäre wenn...? Ich stellte mir diese Frage und beschloss, mir auch die Antwort drauf zu geben. Ich drückte an und zog die Klinge der Schere durch die Haut. Brennender Schmerz machte sich sofort bemerkbar und ich biss mir auf die Unterlippe. Es tat weh..aber es fühlte sich gleichzeitig gut an. Es betäubte meinen inneren Schmerz. Es war der Beginn einer Sucht..


Donnerstag, 23. Mai 2013

Kapitel 6- Tiefpunkt

Eine Woche war vergangen. Eine Woche, die ich mit Danielle verbracht hatte, zumindest zum Großteil. Mira war natürlich immer noch skeptisch und das konnte ich ihr nicht verübeln. Aber ich war mir sicher, dass alles gut war. Immerhin war es schon eine Woche her.
Ich saß auf dem Tisch meines Platzes im Chemieraum und beobachtete das Treiben, das teilweise sehr kindisch war. Zwei Jungs machten sich am Waschbecken zu schaffen und spritzten vorbeilaufende Mädchen an, welche darauf hin kreischten, als würde jemand mit dem Messer hinter ihnen her sein. Das war doch lächerlich. Kopfschüttelnd senkte ich wieder den Bleistift aufs Papier und setzte meine Zeichnung fort. Seit ein paar Jahren versuchte ich mich an Mangazeichnungen, einfach weil ich diese Richtung liebte. Seit ich das erste Mal Sailor Moon gesehen hatte, war ich total süchtig danach. Ich glaube, ich war acht Jahre alt, als die Serie aus Japan über den Bildschirm flimmerte. Das faszinierte mich so sehr, dass ich bald anfing, jede Animeserie zu süchteln, die im Fernsehen zu sehen war. Das war Kindheit gewesen! Wenn ich heute ins TV-Programme gucke, womit die Kinder heutzutage zugebombt werden...da wundert es mich nicht, dass die Kinder immer respekt- und niveauloser werden.
Jedenfalls machte ich gerade eine Wunschzeichnung für eine Klassenkollegin. Lustigerweise genau eins von Sailor Moon. Ich war regelrecht überrascht, dass hier überhaupt jemand so etwas kannte.
“Was machst du?”, riss eine herablassende Stimme mich aus den Gedanken, die nur Kristin gehören konnte. Ich hatte keine Lust, mich auf eine Diskussion einzulassen, dennoch antwortete ich recht grimmig: “Ich wüsste nicht, was dich das angeht.”
Dabei versuchte ich, meine Zeichnung zu verdecken, doch Kristin riss sie mir aus der Hand und machte sie damit kaputt, da eine Ecke hängen blieb. Das brachte mich zur Weißglut.
“Hast du sie noch alle?”, fuhr ich sie an und war kurz davor, ihr eine zu scheuern. Ich ließ mir ja vieles gefallen, aber wenn man sich an meinen Zeichnungen zu schaffen machte, dann war das gefährlich. Da konnte ich nicht ruhig bleiben. Kristin schenkte mir nur ein abfälliges Lächeln, ehe sie sich die Zeichnung besah, weiterhin spöttisch.
“Bist du nicht etwas zu alt für diesen Mist?”, meinte sie schließlich und pfefferte mir die Zeichnung auf den Tisch, “abgesehen davon sieht es echt scheiße aus.”
Okay, ich wusste selbst, dass ich nicht besonders gut im Zeichnen war. Aber es war, als würde ich am Boden liegen und sie trat noch auf mich drauf. Bisher war ich mit dem Bild nämlich einigermaßen zufrieden gewesen. Was jetzt allerdings total dahin war. Doch ich ließ mir nichts anmerken.
“Machs doch selbst besser”, gab ich zurück und hoffte, dabei so griesgrämig zu klingen, wie ich es wollte. Es nervte mich, dass sie andere runtermachte wegen Dingen, die sie vermutlich nichtmal ausprobiert hatte. Ihre Reaktion fiel so aus, wie man sie von ihr erwartete: Sie warf ihr blondes Haar zurück, schenkte mir einen herablassenden Blick und sagte spöttisch: “Als ob ich so tief sinken würde, das ist doch Kinderkacke. Werd erwachsen.”
Mit erhobenem Haupt stolzierte sie auf ihren Platz. Diese Person schaffte es, mich zu Dingen zu verleiten, die ich sonst niemals tun würde. Auch dieses Mal. Ich knüllte meine Zeichnung zusammen und warf sie ihr an den Kopf, wobei ich es schade fand, dass kein Stein drin war. Ich war zwar unsicher, aber auch ich durfte schlechte Gedanken haben, auch wenn ich sie nicht in die Tat umsetzte.
Dies war die letzte Zeichnung für eine sehr lange Zeit. Nachdem ich sie neu gemacht hatte und auch beendet, hatte ich 2 Jahre lang keine Zeichnung mehr gemacht. Ich hatte die Lust daran vollkommen verloren. Und dafür hasse ich mich heute noch. Hätte ich nicht aufgehört, wäre ich jetzt wohl viel besser.
Noch am selben Tag bekamen wir unseren Deutsch Aufsatz zurück, auf den ich eine glatte Eins hatte. Ich liebte es, Aufsätze zu schreiben. Das hob meine Laune ein kleines bisschen. Aber nur für eine kurze Zeit. Denn kaum klingelte es zur Pause, kam Philippe auf mich zu und nahm den Aufsatz an sich: “Guckt euch mal diese Streberin an! Ein Fehler und unter der Note: Sehr gut geschrieben! Du tust eh nichts anderes als zu lernen, was? Oder hast du dich beim Lehrer eingeschleimt? Kein Wunder, dass du keine Freunde hast!” Damit traf er einen wunden Punkt. Klar, ich hatte Mira, aber sie war mehr eine Zimmerkollegin als eine wirkliche Freundin. Und Danielle...war eben Danielle. Aber bisher konnte ich damit immer gut leben, schließlich habe ich mich ja selbst abgeschottet. Vermutlich als Sicherheitsmaßnahme, wie mein Psychologe später sagen wird.
“Na und, dann bin ich halt ne Streberin”, entgegnete ich und nahm ihm meinen Aufsatz weg, “ihr werdet dafür irgendwann auf der Straße landen mit euren miesen Noten.” Ich fragte mich, woher ich diesen Mut nahm, denn eigentlich war er vergeblich. Meine Sachen landeten in meiner Umhängetasche und ich floh direkt aus der Klasse, während die Hälfte davon mir lachend hinterhersah. Dieses Lachen werde ich nie vergessen, noch heute verfolgt es mich in meinen Träumen.
Ich erreichte das Zimmer und schmiss die Türe hinter mir zu. Zuerst musste ich ein paar Mal durchatmen, um nicht zu heulen. Ich fragte mich, warum ich mir das überhaupt zu Herzen nahm, von Menschen die mich nicht kannten. Sie sprachen zwar die Wahrheit, aber das konnten sie ja eigentlich nicht wissen.
Mira war nicht da, also konnte ich mich in Ruhe auslassen. Ich zog den Aufsatz aus meiner Tasche und starrte ihn an. Ich las ihn nicht, ich starrte ihn nur an, bis er vor meinen Augen verschwamm. In einem plötzlichen Anflug von Wut, zerriss ich ihn in viele kleine Schnipsel, die schließlich im Müll landeten und zog meine Schreibtischschublade auf. Dort bewahrte ich seit neuestem eine Packung Zigaretten auf. Jedesmal wenn ich mit Danielle unterwegs war, rauchte ich mit. Innerhalb einer Woche war das zur Gewohnheit geworden. Ich hasste es, dass ich das tat. Aber ich vertrat die Überzeugung, dass ich jederzeit aufhören konnte. Und ich tat es ja nur, damit Danielle sich nicht über mich lustig machte. Eine Weile stand ich regungslos da, ehe ich die Packung nahm, meine Jacke überwarf und runter zum Teich ging. Zum ersten Mal ging ich dort alleine hin, um zu rauchen. Aber ich hatte im Moment so das Bedürfnis danach, dass ich es nicht aushielt. Ich war schwach..und ich sollte noch schwächer werden.
Ich zündete mir die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Ich fühlte mich im selben Moment schuldig und frei. Auf jeden Fall brachte es mich etwas runter und damit war ich zufrieden. Ich starrte in den Teich, die Worte hallten immer noch in meinem Kopf wieder. Streberin. Keine Freunde. Ich sah mich vor mir, mit 60 Jahren und umringt von Katzen. Ja, so würde ich vermutlich enden. Ich fing ja jetzt schon damit an. Ein trockenes, freudloses Lachen kam über meine Lippen. Ich war ja so erbärmlich. Was wollte ich eigentlich noch alles verkacken? Aus mir würde doch sowieso nie was werden, ganz egal, wie gute Noten ich hatte. Im Grunde blieb ich das dumme Ding, das nicht für sich selbst sorgen konnte und kein Selbstbewusstsein hatte. Ich würde mich nie in eine Gruppe von Menschen integrieren können, weil ich mich selbst zum Außenseiter machte. Was für eine rosige Zukunft.
Seufzend warf ich den Zigarettenstummel ins Gras, was so gar nicht dem entsprach, wie ich mich sonst benahm, aber im Moment war es mir ziemlich egal. Zehn Minuten später machte ich mich auf den Rückweg, etwas entspannter und vorallem wieder ruhiger. Ich kam nicht mal bis zum Wohntrakt, als ich schon wieder aufgehalten wurde. Diesmal von Kristins anderer Freundin, Marissa. Sie hasste ich fast so sehr, wie ich Kristin selbst hasste. Ich wollte nicht mit ihr sprechen, also lief ich schnell weiter. Sie packte mich am Handgelenk und hielt mich zurück.
“Renn doch nicht weg”, meinte sie in lieblicher Stimme, “ich will nur kurz mit dir reden.”
Ich riss mich los: “Ich aber nicht mit dir. Also..” Ich ging weiter, doch sie folgte mir, sodass ich mich gereizt zu ihr umdrehte. Wie konnte man so nervig sein?
“Was willst du von mir?”, fragte ich sie aggressiv und starrte sie entnervt an. Ich hatte für heute wirklich genug von allen.
“Ich wollte dich zur Party am Samstag einladen”, meinte Marissa ganz unschuldig, “es gibt noch ein paar Einladungen und Kristin meinte, ich soll dich einladen. Als Entschuldigung für das heute Mittag.” Damit hielt sie mir einen hellblauen Briefumschlag hin. Ich nahm ihn misstrauisch entgegen.
“Achja?”, fragte ich nur skeptisch und nahm die Einladung heraus, die anscheinend aus der Druckerei stammte. In edler schnörkliger Schrift wurde der Text auf hartem Papier mit einer Prägung gedruckt. Wie spießig.
Marissa schenkte mir ein Lächeln, ehe sie sich wieder entfernte. Ich blickte auf die Einladung und wollte sie in den nächstbesten Mülleimer werfen, doch dann hielt ich inne. Vielleicht sollte ich ja doch mal gucken, was passierte. Ich ahnte zwar, dass es schlecht laufen würde, aber was hatte ich schon zu verlieren?

Dienstag, 21. Mai 2013

Kapitel 5- Zweifel

Wir gingen nach draußen, wo es schon längst dunkel war. Trotzdem überraschte mich die Tatsache, da ich nicht gemerkt hatte, wie lange ich in der Bibliothek gewesen war. Leicht schmollend lief ich hinter Danielle her. Ich traute dem Ganzen nicht wirklich, war aber doch irgendwie zu höflich, um was zu sagen. Wir gelangten an den kleinen Teich und ich merkte, ich hatte ihn vermisst. Obwohl ich erst einmal hier gewesen war. Tatsächlich hatte ich mir die Warnung von Kristin zu Herzen genommen. Und auch jetzt beschlich mich ein unbehagliches Gefühl, mein Verstand schrie: ‘Hier solltest du nicht sein!’ Doch ich wischte es einfach mal beiseite. Immerhin würde Danielle schon wissen, was sie tat. Auch wenn ich im Hinterkopf durchaus den Gedanken hatte, dass es schlecht für mich sein könnte. Dieses Misstrauen wollte ich ablegen, so schwer es auch war.
“Keine Sorge, um die Uhrzeit kommt Kristin nicht her”, meinte Danielle, als hätte sie meine Gedanken erraten. Vermutlich konnte man es mir vom Gesicht ablesen. Aber Moment, dieses verängstigte Mädchen war ich ja nicht mehr. Also Kopf hoch und näher ans Wasser. Ich wollte gerade fragen, warum wir hier waren, als ich das Klicken eines Zippos vernahm, was meinen Blick zu Danielle lenkte. Sie zündete sich eine Zigarette an. Ich machte gerade den Mund auf um zu sagen, dass man am Schulgelände nicht rauchen durfte, schloss ihn dann aber wieder, ohne etwas zu sagen. Sonst würde ich ja gleich wieder als Memme dastehen. Ich ließ mich ins kalte, feuchte Gras fallen und der erste Gedanke, der mir dabei in den Sinn kam war ‘so muss sich der Tod anfühlen.’ Ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf gekommen war, über das Thema hatte ich mir seit der Beerdigung meiner Großmutter vor 6 Jahren nicht mehr den Kopf zerbrochen.
“Willst du auch eine?”, fragte Danielle und hielt mir die Zigarettenpackung hin. Ich rauchte eigentlich nicht und zögerte. Dann aber dachte ich mir, was kann schon passieren? Von einer Zigarette würde ich schon nicht süchtig werden. Also nickte ich zaghaft und nahm mir eine, zündete sie an- und hustete. Es war das ekligste Gefühl, das ich je hatte. Zwar hatte ich schonmal als Kind an einer Zigarette meines Erzeugers gezogen, aber das hier war noch ekliger. Vielleicht lag es daran, dass ich Panik im Nacken hatte. Vielleicht aber auch daran, dass die Zigarette stärker war. Danielle lachte: “War ja klar, dass das passiert. Du machst das falsch.” Dann fing sie an mir zu erklären wie es richtig ging und siehe da- beim nächsten Zug klappte es schon. Eklig fand ich es trotzdem, doch Danielles Gesicht war eine zufriedene Miene, also schwieg ich und rauchte die Zigarette zu Ende. Solange es sie glücklich machte.
“Kommt ihr immer hierher um zu rauchen?”, fragte ich nach einer Weile der Stille und zog meine Beine an den Körper, um mich ein bisschen zu wärmen. Ich konnte es immer noch kaum glauben, dass ich hier mit diesem Mädchen saß. Aber irgendwie fühlte ich mich trotzdem wohl, komischerweise.
“Ja. Die Lehrer kommen fast nie hier runter. Manchmal glaube ich, die wissen gar nicht, dass hier ein Teich ist”, erklärte Danielle grinsend und schnippte ihren Zigarettenstummel in den Teich. Empört blickte ich sie an, sagte aber nichts. Ich fand es nach wie vor dämlich, einfach hier zu rauchen. Wenn die Lehrer ja nun doch runterkamen, was dann?
“Hast du bei Kristin gepetzt?”, fragte ich schließlich leise und wandte den Blick von ihr ab. Eigentlich war die Frage überflüssig, wer sonst sollte gepetzt haben? Obwohl ich es übertrieben fand, wegen abgelehnter Nachhilfe Bücher zu zerstören.
“Ja. Und es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass Kristin so reagieren würde”, entschuldigte Danielle sich und klang dabei so aufrichtig, dass ich ihr einfach glaubte. Verzeihen konnte ich Kristin nicht, aber ich konnte Danielle verziehen.
Langsam erhob ich mich wieder und rieb mir die Oberarme, da es echt kalt war und ich keine Jacke trug. Anschließend klopfte ich mir den Staub von der Hose und wandte mich zum Gebäude: “ich geh dann mal wieder rein..krieg ich meine Tasche wieder?”
“Du willst schon gehen? Wie schade”, kam es bedauernd von Danielle, aber sie reichte mir die Tasche. Ich winkte ihr kurz zum Abschied zu und stapfte zurück zum Schulgebäude. Ich fühlte mich ein wenig benebelt, einerseits vom rauchen, andererseits davon, dass ich mich mit Danielle unterhalten und seltsamerweise auch verstanden hatte.

Ich erreichte mein Zimmer und stellte die Tasche auf dem Boden ab. Mira lag auf dem Bett und las in einem Buch, blickte aber auf, als ich durch die Tür kam: “Du kommst spät.”
Leicht nickte ich: “Ich war noch in der Bücherei..” Meine Stimme klang nicht so überzeugend und meine Zimmerkollegin merkte das auch. Ich fühlte mich schlecht, weil ich sie belog und es fiel mir auch enorm schwer, weshalb ich auch gleich mit dem Rest rausrückte: “Ich hab mich mit Danielle unterhalten. Die Freundin von Kristin..sie ist erstaunlich freundlich, ich hab mich mit ihr gut verstanden.”
Mira’s Blick wurde misstrauisch: “Du hast dich mit Danielle unterhalten? Du solltest dich nicht zu sehr auf sie einlassen. Sie ist immer noch eine Freundin von Kristin.”
Ein weiteres Nicken war meine Reaktion darauf, das wusste ich selbst auch. Doch insgeheim vertraute ich Danielle irgendwie.
“Du riechst nach Rauch. Warst du etwa rauchen?”, hakte Mira in so einem vorwurfsvollen Ton nach, dass ich förmlich schrumpfte. Gott, ich fühlte mich wie bei einem Verhör mit meiner Mutter.  Das gefiel mir gar nicht. Und es macht mich irgendwie aggressiv.
“Ja, war ich. Und jetzt?”, hakte ich also ein wenig gereizt nach und warf mich aufs Bett. Irgendwie sank meine Laune grad ziemlich rasant. Nicht, dass ich das nicht schon von mir kannte, aber an Mira wollte ich das eigentlich nicht auslassen. Also verkroch ich mich unter meinem Kissen und stritt mit mir selbst. Wie dumm ich war, dass ich geraucht hatte, dass ich Danielle überhaupt glaubte, ohne einen Beweis zu haben.
“Alles klar bei dir?”, hörte ich Mira nach einer Weile fragen. Noch ein bisschen mehr Schuldgefühle. Ich fuhr sie an, dabei machte sie sich nur Sorgen. Was dachte ich mir nur dabei?
So kam ich unter der Decke hervor: “Tut mir leid. Ich bin einfach...müde.”
Das war zwar nicht ganz die Wahrheit, aber egal. Oh man, ich wurde ja echt immer unehrlicher. Das konnte ja nicht sein.
“Oh..shit, ich hab meine Hausaufgaben nicht fertig”, fiel es mir siedend heiß ein und ich fuhr regelrecht hoch, wobei ich mir gleich mal den Kopf an der Mauer anhaute. Das war ja so typisch für mich. Ich rieb mir den Hinterkopf und holte die Sachen auf mein Bett, ehe ich anfing, sie durchzuarbeiten. Dabei schweiften meine Gedanken regelmäßig ab. War es das Richtige, was ich tat?


Montag, 20. Mai 2013

Kapitel 4- Schleichende Veränderung

Ich hatte eine ziemlich unruhige Nacht, träumte ziemlichen Mist, wenn ich ehrlich war. Verfolgungsjagden, gesichtslose Gestalten, die mich jagten. Dunkle Keller, laute Krawalle, Menschenmassen, plötzliche Leere. Alles in allem war es sehr wirr und erschöpfte mich mehr, als dass mich der Schlaf erholte.
Als ich am Morgen meinen Wecker abstellte, fühlte ich mich total gerädert. Mir war immer noch etwas schlecht, aber das war wohl mein kleinstes Problem. Eine Weile lag ich auf dem Rücken und starrte an die Decke. Es graute mir davor, mich aus dem Zimmer zu bewegen, ich hatte Angst vor dem, was mich erwarten könnte. Denn in einem war ich mir sicher: Kristin ließ das bestimmt nicht auf sich beruhen. Ich bekam Magenschmerzen und fühlte mich wieder in die neunte Klasse versetzt. Ich wollte mich im Zimmer verkriechen und nicht mehr rausgehen. Doch leider war das jetzt nicht mehr so einfach wie letztes Jahr. Wer hier ohne ersichtlichen Grund schwänzte, riskierte einen Rauswurf. Also kämpfte ich mich irgendwann doch aus dem Bett. Mechanisch zog ich mich an- ganz froh darüber, dass es so kalt war und ich lange Sachen tragen konnte- und machte mich fertig. Wie fast immer verzichtete ich darauf mich zu schminken, auch eine Tatsache, die mich zum Außenseiter machte. Das verstand ich nie- wieso wurde man zum Außenseiter, wenn man sein Gesicht nicht mit Schminke zukleisterte? Das ergab keinen Sinn. Aber so oder so schien ich einfach zum Mauerblümchen geboren zu sein. Zusammen mit Mira ging ich in den Speisesaal und setzte mich mit meinem Frühstückstablett an den Tisch. Ich frühstückte eigentlich nicht wirklich. Eine Tasse Kaffee und ein Apfel, den ich mir mit Mira teilte. Ich bekam einfach nicht mehr runter (der Kaffee war schon eine Steigerung), ohne dass mir schlecht wurde.
Während ich an meiner Tasse nippte, überflog ich die Zeitung. Es stand selten etwas wirklich Neues drin, aber es hatte sich in den Wochen hier zu einem Ritual entwickelt. Zuerst las ich das Horoskop- an welches ich zu 50% glaubte. Ich belächelte es immer, da ich mir dachte, im Grunde trifft es nicht zu. Danach ging ich über zum Wetter, zur Titelstory und zu den Todesanzeigen. Sport und Börse ließ ich aus, damit konnte ich nichts anfangen. Während im ganzen Speisesaal Lärm herrschte, war es an unserem Tisch immer recht still. Mira unterhielt sich in gedämpftem Tonfall mit ihrer Kindheitsfreundin Simona, ich las Zeitung und die beiden anderen, die immer bei uns saßen, kannte ich eigentlich nicht.
Als Kristin und ihre Gefolgschaft den Speisesaal betraten, schrumpfte ich noch mehr auf meinem Stuhl zusammen und schob die Tasse von mir. Jetzt bekam ich nichts mehr runter. Keinen Schluck mehr. Kristins Blick traf mich, brannte sich regelrecht auf meine Haut. Erst jetzt weiß ich, was für ein Nervenbündel ich damals schon war. Früher kam es mir immer neu vor.
Ich scharrte mit dem Fuß auf dem Boden und zwang meinen Blick auf die Tischplatte, so nach dem Motto ‘Wenn ich sie nicht sehe, sieht sie mich auch nicht’. Das war natürlich ein Fehlschlag, eine benutzte Serviette landete auf meinem Kopf und Kristin ließ ein spöttisches Lächeln sehen: “Ups, ich dachte, das wäre der Abfalleimer.” Lachend zog sie mit ihrer Gruppe weiter. Mit einem Gefühl der Gleichgültigkeit, das ich von mir gar nicht kannte, nahm ich die Serviette in die Hand und ließ sie auf mein Tablett fallen.
“Lässt du dir das einfach so gefallen?”, wandte sich Simona an mich und sah mich ungläubig an. Ihre Stimme klang ein wenig vorwurfsvoll, was ich nicht nachvollziehen  konnte. Verstand sie denn nicht, dass ich nur noch mehr Ärger kriegen würde, wenn ich mich wehrte?
“Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?”, fragte ich sie also spitz und auch gespannt auf ihre Antwort, während ich meine Arme vor der Brust verschränkte. Ja, ich gebe zu, meine Laune war nicht die Beste, aber auf solche Kommentare konnte ich verzichten.
“Geh doch zu nem Lehrer oder so?”, schlug sie genau das vor, was ich bereits erwartete. Das war ja klar gewesen.
“Nein. Dann wird alles nur noch schlimmer. Ich krieg das schon hin”, sagte ich auch ihr und stand auf. Mit den Worten, ich müsste noch etwas erledigen, verließ ich den Speisesaal fast fluchtartig. An die nächsten Minuten kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass ich plötzlich heulend in der Toilette stand und mir die Unterlippe blutig biss. Gleichzeitig beschimpfte ich mich selbst als schwache Heulsuse, als Jammerlappen.
“Meine Fresse, das war doch nur eine Serviette, dummes Kind!”, hörte ich mich sagen und betrachtete das mit Tränen vermischte Blut, das ins Waschbecken tropfte. Wieso war ich so schwach? So erbärmlich? Wieso machte mich das fertig? So konnte es nicht weitergehen. Ich war doch hier, um mich zu verändern.
Mein Blick verlor sich im Spiegel, ohne richtig hinzusehen, während meine Gedanken auf Wanderschaft gingen. Ich stellte mir ein anderes Ich vor. Ein selbstbewusstes Ich, das sich nichts gefallen ließ, eine Person die stark war, vielleicht sogar beliebt. Gespräche liefen ganz anders ab. Ich lachte und machte Scherze. Ich wollte diese Person werden, wirklich. Und ich entschied mich, sofort damit anzufangen.
Ich wusch mir mit kaltem Wasser das Gesicht und atmete tief durch. Genug geheult und gejammert. Ab jetzt würde ich das nicht mehr mit mir machen lassen. Okay, es war nicht der beste Tag um diesen Entschluss zu fassen, ich war immer noch aufgewühlt wegen den Büchern und den Träumen, aber man war nur einmal jung. Jetzt oder nie! schrie mein Kopf. Ich verließ die Toiletten und ging zurück in unser Zimmer, wo ich mir etwas Make-up von Mira lieh, Kajal und Wimperntusche auftrug und mir andere Klamotten raussuchte. Zugegeben, ich fand eigentlich alles was ich hatte scheiße. Ich hätte auch wirklich ein ganz neues Selbstbewusstsein haben können, ein Walross war ich trotzdem noch und meine Klamotten sahen aus wie eine Mischung aus Flohmarkt und Caritas, weil ich einfach keinen Modegeschmack hatte. Aber mit einer schwarzen Hose und einem dunkelgrünen Pulli mit Schleife am Kragen fühlte ich mich sichtlich wohler, als mit den Sachen, die ich am ersten Tag trug.
Ich schnappte meine Schulbücher und ging in die Klasse. Wir hatten Englisch. Allein diese Tatsache ließ mich grinsen, da Kristins Freundin ja noch gestern um Hilfe gebeten hatte. Armes Mädchen.
Zielstrebig ging ich auf meinen Platz zu und wollte mich gerade setzen, da merkte ich, dass Milch über meinen Stuhl geschüttet war. Mein Blick fiel sofort auf Kristin und Philippe, die sich hastig abwandten. Geräuschvoll zog ich den Stuhl zurück und wischte die Milch mit Taschentüchern auf. Dann ging ich nach vorne, um die Taschentücher zu entsorgen, allerdings kam mir etwas anderes in den Sinn. Ich fiel herab auf Kristins Niveau und ich hasse mich noch heute dafür. Mit leisen Schritten ging ich auf die beiden zu und dann drückte ich das Taschentuch über Kristins Kopf aus. Die Milch tropfte in ihre Haare und sie schrie angewidert auf. Zum zweiten Mal in zwei Tagen. Ich fühlte mich gut dabei, mich dafür zu rächen, was sie mir angetan hatte, ich fühlte mich ebenbürtig- dass es auf eine negative Weise war, würde ich erst hinterher merken.
“Das war die Revange dafür, dass du meine Bücher zerstört hast”, klärte ich sie auf und warf das Taschentuch in den Müll. Ein paar Mitschüler blickte mich verwirrt an, aber das kratzte mich diesmal nicht. Ich fühlte mich einfach nur gut. Und mein Platz war auch wieder sauber.

Den restlichen Tag verbrachte ich damit, mich nicht unterkriegen zu lassen und das gelang mir sogar ganz gut.  Ich ignorierte die Blicke von Kristin, Philippe und der restlichen Gruppe, arbeitete vor mich hin und reagierte nur, wenn ich von Menschen angesprochen wurde, die ich in irgendeiner Weise leiden konnte. So ging der Tag gut rum.
Es war Abends und ich saß erneut in der Bücherei, diesmal um meine Hausaufgaben fertig zu machen. Ich war müde, es war ziemlich anstrengend, so unnahbar zu sein, ob man es glaubte oder nicht. So hörte ich gar nicht, dass sich jemand neben mich setzte. Erst, als ich angeschubst wurde, blickte ich auf. Schon wieder diese Freundin von Kristin. Innerlich verdrehte ich die Augen.
“Ich hab meine Frage gestern ernst gemeint”, fing sie an zu reden, “ich bin echt total mies in Englisch und könnte etwas Hilfe wirklich gebrauchen. Professor Mayr hat gemeint, du wärst gut, also wollte ich dich fragen.”
Skeptisch musterte ich sie, ich konnte ihr nicht so recht glauben: “Du bist eine Freundin von Kristin.” Okay, das war eigentlich kein Grund, ihr nicht zu helfen, aber...immerhin musste sie ja gepetzt haben, damit die Blondine meine Bücher zerstörte.
“So ist das nicht”, entgegnete sie sofort, “ich gehöre zu ihrer Clique, aber eigentlich auch nur, damit sie mich in Ruhe lässt.” Einerseits klang das unglaubwürdig, andererseits aber auch absolult nachvollziehbar. Prüfend musterte ich sie- und meine Gutmütigkeit gewann.
“Okay, ich werd dir helfen”, gab ich also klein bei. Ihr Lächeln wirkte echt auf mich, also lächelte ich zurück.
“Du heißt Freya, richtig? Ich heiße Danielle”, meinte sie in so freundlichem Tonfall, dass ich nicht anders konnte, als ihr zu glauben. Ich nickte leicht und wollte mich wieder um meine Hausaufgaben kümmern, aber sie ließ mich nicht.
“Komm doch ein bisschen mit raus, frische Luft wird dir gut tun”, meinte sie mit einem breiten Grinsen, “hier drin versauerst du doch nur. Hausaufgaben kannst du später auch noch machen.” Danielle ließ mir keine Wahl, sie nahm mir meine Bücher weg und meine Tasche, wo sie die Bücher reinstopfte und ging schonmal voraus. Ich stand einen Augenblick reglos da, ehe ich ihr folgte. Verbündete ich mich jetzt mit dem ‘Feind’?


Kapitel 3- Böse Überraschung

Der erste Monat ging sehr schnell um. Man könnte sagen, ich habe mich gut eingelebt. Schon am dritten Tag der ersten Woche ging es richtig mit dem Stoff los, der so anspruchsvoll war, dass ich mich richtig reinhängen musste. Und das gefiel mir, weil ich mehr über den Stoff als über mich nachdenken musste.

Ich war mit Kristin- die Anführerin der Gruppe, die mich am ersten Tag erwischt hatte- und Philippe- einem der beiden Jungs- in einer Klasse. Das hatte mich zu Beginn ziemlich verunsichert, aber schnell merkte ich, dass sie sich in Anwesenheit eines Lehrers total scheinheilig benahmen und das gab mir in gewisser Weise Sicherheit.
Die Schule hatte eine große Bibliothek, in der ich mich die meiste Zeit aufhielt. Man konnte nie genug Bücher um sich herum haben! Mittlerweile war es Mitte Oktober, der Herbst hatte längst Einzug gehalten und es war recht frisch.
Ich saß in der hintersten Ecke der Bibliothek und versuchte für Mathe zu lernen. Das Fach war schon immer mein Schwachpunkt gewesen und jetzt war es das noch mehr. Ich hatte mehrere Bücher zu dem Thema aus dem Regal gezogen und versuchte irgendwie, das alles zu verstehen. Mira konnte mir auch nicht helfen, da sie selbst nicht wirklich weiterkam. Das war ziemlich frustrierend.
“He, Freya!”, hörte ich meinen Namen, ausgesprochen von einer Stimme, die ich nicht zuordnen konnte. Umso verwunderter blickte ich von den Büchern auf und sah mich um. Die Freundin von Kristin kam auf mich zu. Das machte mich sofort misstrauisch. Was wollte die denn bitte von mir. Ich wappnete mich für alles und mein Blick sprach mein Misstrauen ebenso aus, wie meine ganze Miene.

“Was willst du?”, fragte ich wenig freundlich, doch statt meine Abneigung anzunehmen, wurde ihr Grinsen nur noch breiter. Was mich wiederum noch misstrauischer machte. Ich mochte diese Gruppe nicht, ich hatte jede Menge Abneigungen gegen sie. Nicht nur, weil sie mich am ersten Tag so behandelt hatten, sondern auch, weil sie andere so behandelten.
“Ich wollte fragen, ob du mir mit Englisch helfen kannst”, fragte sie in zuckersüßem Tonfall, doch ich schnaubte nur. Ich bin zwar ein hilfsbereiter Mensch, aber wer würde demjenigen helfen, der sich über einen lustig macht? Auch meine Gutmütigkeit hatte Grenzen.
“Ich hab selbst genug zu tun”, fügte ich meinem Schnauben hinzu und richtete meinen Blick wieder auf meine Bücher. Ich bemühte mich, sie nach allen Kräften zu ignorieren, als sie zu schmeicheln überging und schließlich zu einer Schimpftirade. Ich sagte kein Wort und hörte ihr auch nicht zu. Schließlich zog sie wütend von dannen. Erleichtert sank ich in den Stuhl zurück und atmete tief durch. Ich hatte es geschafft, ruhig zu bleiben, oh Wunder!
Als ich mich Stunden später auf den Weg zum Abendessen machte, kam mir eine alarmierte Mira entgegen. Ihre Miene war ernst und gleichzeitig erschrocken, was mich sofort beunruhigte. Sie hatte mich noch nichtmal erreicht, als ich schon fragte: “Was ist los?” Japsend holte sie Luft, doch schließlich griff sie mein Handgelenk und zog mich einfach mit sich. Mir schwante Böses, da sie so still war. Normalerweise ließ Mira sich nicht aus der Ruhe bringen.

Wir erreichten unser Zimmer und mein Magen fühlte sich plötzlich an, als hätte ich einen Schlag abbekommen. Meine Bücher lagen im ganzen Zimmer zerstreut, Seiten waren herausgerissen worden, es roch nach Rauch. Auf dem Fensterbänkchen ein Häufchen Asche. Ich weiß noch, dass ich in diesem Moment nichtmal denken konnte. Ich verspürte einfach nur eine unsagbare Wut, die mir Magenschmerzen machte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und meine kurzen Fingernägel gruben sich ins Fleisch, sodass es leicht blutete.
Gleichzeitig war ich auch den Tränen nahe. Vor Verzweiflung und vor Zorn.
“Diese verdammten Arschlöcher”, stieß ich zischend hervor und trat gegen den Schrank. Mehrmals atmete ich durch, bevor ich anfing, meine Bücher aufzusammeln. Als ich merkte, welche zerstört worden waren, fing ich an zu heulen, einfach so. Es war mir egal, dass ich nicht allein war und es war mir egal, was Mira von mir dachte. Für den Großteil von euch sind es nur Bücher. Aber für mich waren sie schon immer meine Zuflucht, meine Freunde, mein Leben. Es war, als wäre ich auf der Beerdigung eines guten Freundes.
Mira lachte mich nicht aus. Sie versuchte auch nicht, mich zu beruhigen. Nein, sie half mir schweigend meine Bücher aufzuräumen, als ob sie genau wüsste, wie ich mich fühlte.
Nach etwa zwei Stunden hatte ich mich beruhigt und das nur, weil mir der Hals wehtat vom Weinen. Zitternd saß ich auf meinem Bett, als ich zum wiederholten mal das Ausmaß des Schadens betrachtete. Fast fing ich wieder an zu heulen, aber ich hielt mich zurück.

“Es tut mir leid”, brachte ich krächzend hervor. Schon wieder hatte sie mich heulen sehen, schlimmer als beim ersten Mal. Es war mir peinlich. Sie musste mich für ein kleines Kind halten. Doch Mira schüttelte nur den Kopf: “Es muss dir nicht leid tun...ich glaube, ich wäre auch am Boden zerstört.”
Schweigen senkte sich über unsere Köpfe, welches so laut war, wie ein Kanonenschuss. Wir schwiegen fast eine Stunde, in der ich meinen Bücherstapel traurig anguckte und Mira auf und ab lief. Schließlich war ihre Stimme es, die die Stille zerschnitt: “Weißt du, wer es war?”
Ich wandte ihr meinen Blick zu, nickte langsam: “Ich kann es mir vorstellen. Kristin und ihre Clique.”
Mira hob die Augenbraue: “Sie sind zwar fies, aber traust du ihnen das wirklich zu? Und vorallem warum?” Mir war klar, dass sie das nicht nachvollziehen konnte, also setzte ich mich hin und erzählte ihr zuerst vom Tag meiner Ankunft und anschließend von vorhin in der Bücherei.
Mira war im ersten Moment sprachlos, dann schüttelte sie aber den Kopf: “Wie kann man denn bitte nur so sein?” Ich zuckte die Schultern, fühlte mich aber in meinem Verdacht bestärkt, dass sie es waren.
“Was hast du jetzt vor? Gehst du zum Vertrauenslehrer?”, fragte Mira, aber ich schüttelte den Kopf. Nein, sagte ich. Das ist mein Kampf und den trage ich selbst aus. Hätte ich auf sie gehört, wäre mir vieles erspart geblieben.
Es hatte nicht lang gedauert und ich hatte gemerkt, dass ich mein Tagebuch nicht finden konnte. Zu der Zeit hatte ich fast jeden Tag geschrieben, warum weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls stürzte es mich in Panik, dass ich es nicht finden konnte, immerhin standen da meine Gedanken drin, die niemanden etwas angingen!

Ich hatte die Vermutung, dass Kristin das Buch mitgenommen hatte. Es war relativ unauffällig, eigentlich ein Notizbuch von Vampire Diaries, das man nur mit einem Gummiband verschloss. Deshalb hatte ich es gewählt, weil bestimmt niemand auf die Idee kam, dass das ein Tagebuch sein könnte. Falsch gedacht.
An diesem Abend war mir alles egal. Ich machte mich schnurstracks auf den Weg zu Kristins Zimmer, um Angst zu haben war ich zu wütend. Mit wütenden Schlägen klopfte ich an ihre Zimmertür. Von drinnen hörte ich ein Kichern, zwei Sekunden später wurde die Tür geöffnet und die Blondine strahlte mich mit einem gemeinen Grinsen an, ihre Stimme hatte einen unschuldigen Tonfall: “Was für eine Überraschung, Freya. Kann ich etwas für dich tun?” Ich weiß nicht, was passiert ist, auf jeden Fall wurde mir in diesem Augenblick so schlecht, dass mir mein Essen wieder hochkam. Eigentlich hatte ich vor, Kristin anzuschreien oder auf sie loszugehen. Stattdessen kotzte ich ihr auf die Hose und die Schuhe. Angeekelt schrie sie auf und stolperte rückwärts in ihr Zimmer, bevor sie die Tür zuknallte. Ich war zwischen lachen und weinen und vor Scham im Boden versinken. Wie angewurzelt stand ich noch eine Weile vor der Tür und konnte keinen Schritt gehen, weil meine Beine zitterten. Aber hey, es drückte zumindest meine Meinung über sie aus!
Eine halbe Stunde später fand ich mich wieder in unserem Zimmer ein, mein erster Weg war ins Badezimmer und unter die Dusche. Immer noch war mir schlecht, aber es ging wieder zurück. Noch heute stelle ich mir die Frage, was ich damals gehabt hatte. Als ich fertig geduscht hatte, trocknete ich mich langsam ab und kniff in meinen Bauch, meine fetten Oberschenkel, meine dicken Oberarme. Ich war angeekelt von mir selbst. Wie konnte man so fett sein? Wie konnte man so hässlich sein? Die Anderen mobbten mich zurecht, ich hatte es nicht anders verdient! Rasch zog ich meine Schlafsachen an, um diesen Anblick nicht länger ertragen zu müssen und wanderte gedankenverloren in mein Bett. Die Decke bis ans Kinn hochgezogen, fingen meine Gedanken an, wild herum zu rasen. Ich musste dringend abnehmen. Sehr dringend. Und ich musste selbstbewusster werden.

Miras Stimme gebot meinen Gedankengängen Einhalt: “Wo warst du?”
Ich linste zu ihr, ohne mich zu bewegen: “Ich war bei Kristin und wollte sie zur Rede stellen..” Ich drehte mich auf die Seite, sodass ich den großen Spiegel nicht sah und zog mir die Decke nun über den Kopf.
“Du wolltest? Was ist passiert?”, hakte meine Zimmerkollegin neugierig nach. Ich fluchte innerlich. Sollte ich ihr diese Peinlichkeit wirklich erzählen? Ich entschied mich für ja.
“Ich hab sie vollgereihert”, murmelte ich und spürte, wie ich errötete. Ich errötete ja wirklich wegen jeder Kleinigkeit, aber das war auch ziemlich peinlich. Stille. Und dann plötzlich lachte Mira los. Sie lachte mich nicht aus, nein. Sie lachte einfach nur über das Geschehen.
“Dein Ernst? Oh man, wie geil”, lachte sie und schüttelte den Kopf, “du hast ihr ziemlich deutlich die Meinung gesagt, würde ich mal behaupten.”
Ich nickte und grinste etwas, bevor ich mitlachen musste. Ja, das hatte ich. Allerdings hatte ich auch das dumpfe Gefühl, dass ich das noch bereuen würde. Auch wenn es keine Absicht gewesen war, Kristin war das ziemlich egal.


Kapitel 2- Ankunft

Ich stand also hier, samt Gepäck und starrte das überdimensional große Gebäude an. Okay, das war vielleicht übertrieben. Es waren drei Gebäude- das Schulgebäude, Freizeitgebäude und das Wohngebäude. Der Campus war etwa so groß wie die Hälfte von dem Kaff, aus dem ich komme. Ich sage ja, es war ein Kaff.

Die Sonne verschwand hinter den Bergen und erinnerte mich daran, dass ich erfrieren würde, wenn ich hier weiter rumstand. Also nahm ich meinen Koffer wieder hoch und lief auf den Wohnkomplex zu. In meinem Brief stand die Zimmernummer mit der Anmerkung, dass ich mir das Zimmer teilen würde. Damit würde ich schon leben können, hoffte ich zumindest. Ich hielt es auf die Dauer nicht aus, jemanden vierundzwanzig Stunden am Tag am Hals zu haben, aber so lange würden wir uns wohl nicht sehen. Da waren ja die Schulstunden, die Freizeit, die Mahlzeiten..ich hoffte nur, ich käme nicht mit einer Schicki-Micki Tussi in ein Zimmer, denn dann war Stress schon vorprogrammiert.

Ich rechnete mit allem, als ich die Zimmertür öffnete. Doch zu meiner Überraschung war das Zimmer leer. Ich war entweder zu früh oder zu spät. Dennoch betrat ich den Raum und schloss die Tür leise hinter mir. Kurz überblickte ich den Raum. Zwei Betten, eins beim Fenster, eins bei der Tür. Ein großer Tisch mit 2 Stühlen, ein Wandschrank. Eine kleine dunkelblaue Couch, ein Fernseher, der recht altmodisch aussah. Ich dachte in dem Moment noch, dass ich dafür bestimmt eine Brille brauchen würde.

Dann blieb mein Blick an einem Koffer hängen, der nicht meiner war. War ich also doch nicht zu früh oder zu spät. Aber meine Zimmerkollegin war ausgeflogen. Ich warf meinen Rucksack auf das scheinbar leere Bett und trat näher an das ihre heran, um den Versuch zu starten, etwas über sie heraus zu finden. Doch zu meiner Enttäuschung hatte sie bisher nur ein Buch auf dem Nachtkästchen liegen und eine Bluse auf dem Kopfkissen. Das Buch hatte etwas mit Blumen zu tun, den Titel weiß ich nicht mehr. Die Bluse sah ganz normal aus. Gab mir keinen Aufschluss über die Art von Mensch, die meine Zimmerkollegin sein würde.

Seufzend ging ich zurück zu meinen Sachen und fing an, auszupacken. Mein riesiger Stapel Bücher- aller möglicher Art, Fantasy, Krimi, Thriller, Mangas, Autobiographien- schwankte bedrohlich, als ich ihn auf dem Nachtkästchen abstellte. Ich warf ihnen einen bedrohlichen Blick zu und war mir sicher, dass sie nicht umfallen würden. Die wenigen Klamotten warf ich unordentlich in die Ecke des Schranks, es war mir egal, wenn sie zerknittert waren. Hier stand niemand hinter mir und meckerte deswegen. Ein paar meiner Plüschtiere landeten auf dem Bett, meine CD-Sammlung und Technischer Krimskrams hingegen in der Schublade. Den leeren Koffer schob ich unter das Gestell und schließlich setzte ich mich auf die Matratze und lauschte der Stille. Ich genoss sie regelrecht. Keine streitenden Geschwister, keine fauchende Mutter, kein gröhlender Staubsauger, kein..Lärm. Doch nach einer Weile fing die vollkommene Stille an, unheimlich zu werden. Also beschloss ich, mich draußen ein wenig umzusehen. Ich schnappte mir mein Handy und Kopfhörer und ließ mich von Bullet for my Valentine berieseln, als ich das Zimmer verließ und den Gang zum Außenbereich entlang lief. Dabei kam mir der ein oder andere Schüler entgegen, dem ich dann nur leicht zulächelte. Bloß nicht in ein Gespräch verwickeln lassen! waren meine Gedanken. Ich wollte mit niemandem reden, noch nicht. Ich wollte einfach nur weiter genießen. Ein kleiner Feldweg führte zu einem winzigen Teich hinunter, doch er fesselte mich sofort. Zwei Frösche tummelten sich auf den Blättern der Seerosen und sprangen von Blatt zu Blatt. Ich ließ mich ins Gras fallen und sah ihnen einfach dabei zu. Ich fühlte mich wohl.

Die angenehme Stille hielt allerdings nicht sehr lange. Durch die doch ziemlich laute Musik meiner Kopfhörer hörte ich mehrere Schritte, die sich mir näherten. Mein Herz fing an zu rasen und Panik überkam mich. Ich war so schlecht darin, mich mit Menschen abzugeben! Sollte ich weglaufen? Das käme sicher auch ganz blöd. Also blieb ich stocksteif sitzen wo ich war und hoffte, dass sie mich nicht bemerken würden. Hoffte, sie würden vorbeiziehen. Dann fiel mir siedend heiß ein, dass ich diese grässliche Hose trug, die mein ohnehin schon ekliges Äußeres noch viel ekliger erscheinen ließ. Was hatte ich mir dabei gedacht? So konnte ich mir doch gar keine Freunde machen! Meine Gedanken liefen Amok und ich schrumpfte in mich zusammen, in der Hoffnung, einfach unsichtbar zu sein. Ich zog Unsichtbarkeit dem Spott weit vor.

Doch mein Gebet wurde nicht erhört. Zwei Jungs und drei Mädchen kamen direkt auf mich zu. Ein Mädel davon sah genau so aus, wie ich es mir in meinen schlimmsten Träumen immer ausmalte. Die anderen wirkten auf den ersten Blick normal. Doch diesen Gedanken vergrub ich ziemlich schnell wieder.
“Was machst du Walross denn hier? Deine Familie besuchen?”, fragte der Größere der Jungs mit spöttischer Stimme und herablassendem Blick. Sofort schoss mir die Röte ins Gesicht und ich senkte den Blick. Unfähig etwas zu sagen, biss ich mir auf die Unterlippe.
“Bist du taub oder was?”, fragte die offensichtliche Zicke und flüsterte ihrer braunhaarigen Freundin etwas zu, woraufhin diese kicherte.
Meine Hände zitterten leicht und ich drehte die Musik lauter, um ihre Stimmen zu übertönen. Bitte nicht, dachte ich, es kann doch nicht schon wieder so anfangen! Die Musik dröhnte in meinem Kopf und machte ihn schwer, doch ich ließ sie so laut. Plötzlich wurden mir die Ohrstöpsel aus den Ohren gerissen und die Blondine beugte sich zu mir runter, wobei ihre Brüste fast aus dem tief ausgeschnittenen Top purzelten: “Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!”

Einem Impuls folgend, blickte ich sie mit finsterer Miene an und zischte: “Ich rede aber nicht mit dir, also sehe ich dazu keine Notwendigkeit! Und stopf deine Fakebrüste wieder in dein Shirt zurück!”
Einen Augenblick lang herrschte perplexe Stille, in der mich erneut die Panik packte. Was hatte ich denn jetzt schon wieder gesagt? Ich hasste diese Ausbrüche, die ich einfach nicht unter Kontrolle hatte. Der Blick der gesamten Gruppe wurde eisig.
“Wir lassen dich nicht aus den Augen”, verkündete Blondchen und fügte nach einer dramatischen Sekunde hinzu, “und das hier ist unser Platz. Verzieh dich lieber schnell, bevor es noch Ärger für dich gibt, Fettsack.”
Meine Hände bebten, doch diesmal nicht mehr vor Angst, sondern schlichtwegs vor Zorn. Dennoch hielt ich einfach meine Klappe, stand betont langsam auf und mein Gesicht war immer noch hochrot, vor Demütigung. Ich wollte einfach nichts riskieren, in meinen Wutausbrüchen hatte ich schon oft Schwierigkeiten gemacht. Ganz besonders erinnerte ich mich an einen dieser Anfälle, die Rufus betrafen. Ich glaube, ich war eifersüchtig, weil er ständig was mit seinen Freunden machte und mich allein zurückließ. Ich hatte ihn angebettelt, einmal bei mir zu bleiben und aus meiner verzweifelten Bettelei wurde Wut und in dieser bin ich auf ihn losgegangen und habe ihm fast den Arm gebrochen. Das war kurz nach unserem Rauswurf von zuhause gewesen.
Um so etwas zu vermeiden, trottete ich den Weg zurück, den Spott im Nacken und schließlich auch mit Tränen, die mir über die Wangen liefen. Das war so typisch, erst eine große Klappe und schließlich war ich wieder am Heulen. Ich hasste dieses kindische Verhalten an mir so sehr, doch ich konnte es nicht ändern. Das ist auch heute noch so.

Ich kam zurück ins Zimmer und schlug die Türe hinter mir zu, schniefend pfefferte ich mein Handy aufs Bett- um gleich darauf zu erröten. Toll, Blamage hoch zehn! Meine Zimmerkollegin hatte sich mittlerweile eingefunden und sah mich jetzt mit einer Mischung aus Verwirrung und Mitleid an. Sie trug eine Brille, hatte braunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und sah nicht aus, wie eins dieser Supermodels, sondern hatte eine schöne weibliche Figur. Und sie sah auch nicht aus, wie eine Schicki-Micki-Tussi. Das beruhigte mich etwas.
Schnell wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und setzte mich aufs Bett. Was für ein hervorragender erster Eindruck.
“Alles okay?”, hörte ich sie fragen und ich nickte eifrig, während ich nach Taschentüchern suchte. Irgendwo in meinem Rucksack hatte ich doch noch welche gehabt.
“Heimweh”, log ich mit einem leichten, schiefen Lächeln und wandte mich von ihr ab, um mich zu schnäuzen. Heimweh. Noch erbärmlicher gehts ja wohl nicht! Aber das war das erste was mir in den Sinn gekommen war und immer noch besser als die Wahrheit.
“Das kenn ich, in meinem ersten Jahr hier war das auch so”, meinte sie in freundlichem Tonfall und sah mich weiterhin an. Es war mir ehrlich unangenehm, also versuchte ich, mit einem Gespräch von meiner Heulerei abzulenken.
“Ich bin Freya”, stellte ich mich vor, “sorry für diesen katastrophalen Auftritt.” Zögernd streckte ich ihr meine Hand entgegen. Das Mädchen schüttelte den Kopf: “Ist doch nicht schlimm. Ich heiße Mira. Freut mich, dich kennenzulernen.”
Wir schüttelten uns die Hände und ich musste unweigerlich lächeln. Ihre Hände waren warm, ihr Händedruck stark, aber nicht zu stark. Ich mochte sie sofort.

Der restliche Abend verlief ziemlich ereignislos, wir quatschten noch etwas über Belanglosigkeiten, futterten Schokolade und fielen schließlich in den Tiefschlaf. Nachts wachte ich kurz auf, weil mir mit einem Mal Panik in die Glieder fuhr. Ich wusste nicht, woher diese rührte, noch wovor ich Panik hatte. Doch sie war da. Ich setzte mich kurz auf und blickte zum Wandschrank. Jetzt, wo er geschlossen war, erkannte ich einen großen Spiegel auf diesem. Ich hasste Spiegel, schon immer. Sie machten mir Angst, ganz besonders Nachts. Mit einem unbehaglichen Gefühl, das schon fast wieder an Panik reichte, drehte ich dem Spiegel den Rücken zu und zwang meine Augen, sich zu schließen. Nach einer Weile schlief ich erneut ein, träumend von blutverschmierten, leeren Gestalten im Spiegel.


Kapitel 1- Abschied

Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Freya, zum Zeitpunkt der Geschichte bin ich 16 Jahre alt. Das ist wichtig, weil..ach ich weiß auch nicht. Früher dachte ich immer, mit 14 würde ich Sailor Kriegerin werden. Als das nicht passierte glaubte ich, dass ich mit 16 so wie Jeanne, die Kamikaze Diebin sein würde. Selbst mit 16 glaubte ich noch daran, dass ich später wie eine der Hexen in Charmed sein würde. Ich hatte schon immer eine lebendige Fantasie und liebte es, mich in dieser eigenen kleinen Welt festzuklammern. Wo niemand mir etwas anhaben konnte. Aber ich schweife ab.

Ich war also 16, hatte gerade einen Riesenkrach mit meiner Mutter und stand mehr oder weniger auf der Straße. Freunde hatte ich noch nie viele gehabt. Ich war immer der Einzelgänger. Oder diejenige, die mal mitging, wenn mein Stiefbruder sich mit seinen Freunden traf.

Zu dieser Zeit hatte ich mich entschieden, auf ein Internat zu gehen. Denn ich hatte es satt, in diesem Kaff festzusitzen, in dem es nichts gab außer ein paar Lebensmittelläden. Ich hatte es satt, meinen Erzeuger ständig zu sehen in dem Wissen, dass meine Schwester und ich ihm nichts bedeuteten, er grüßte nichtmal. Ich hatte es satt, ein Niemand zu sein. Vielleicht hatte ich aber auch einfach die Einsamkeit satt, niemand in meinem Dorf war so interessant, dass ich mit ihm befreundet sein wollte. Niemand teilte meine Hobbies und meine Leidenschaften. Ich fühlte mich fehl am Platz. In der falschen Gesellschaft. Heute erkenne ich, dass ich mich auch im falschen Leben fühle.

Ich lebte mit meinem Stiefbruder in einem kleinen Pensionszimmer zusammen, er war ein halbes Jahr jünger als ich. Meistens vertrugen wir uns gut, aber es konnte auch zu handfesten Auseinandersetzungen kommen. Ich arbeitete für die Aufnahmeprüfung eines Internats und hatte einen kleinen Nebenjob, der mir Geld einbrachte. Ich schaffte die Prüfung. Es war mir ein Rätsel wie, aber ich schaffte es. Von jetzt an würde alles besser werden. Zumindest dachte ich das.

Es war ein verregneter Sonntag Nachmittag, als ich meine Stapel von Büchern in einen Koffer schmiss, ein paar Klamotten dazupfefferte und meinen Kulturbeutel auch darin verschwinden ließ. Mein Stiefbruder saß argwöhnisch auf dem Bett und beobachtete mein Tun.

“Du weißt, dass das zu wenig Klamotten sind oder?”, gab er von sich, ein süffisantes Grinsen auf den Lippen. Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu: “Halt’s Maul. Ist ja nicht so, als könnte man Kleidung nicht waschen oder so.” Abwehrend hob Rufus die Hände: “Krieg dich mal wieder ein! Du musst nicht gleich so unfreundlich werden.”

Ich verdrehte die Augen und ging nochmal ins Badezimmer um nachzusehen, ob ich auch nichts vergessen hatte. Nein, alles leer. Ich guckte aufs Bett. Dort lag noch mein Lieblingsplüschtier, ein kleiner Stoffdalmatiner, den ich in der 5. Klasse auf einem Ausflug gekauft hatte. Mit meiner damaligen besten Freundin zusammen hatte ich den Namen “Lucky” für ihn ausgesucht. Damit er immer glücklich ist.

Ich steckte ihn in meinen Rucksack. Es war mir egal, dass ich eigentlich schon zu alt für Plüschtiere war, ich liebte sie. Die Gamecube und der kleine Fernseher würden bei Rufus bleiben. War mir auch ganz recht so, denn sie erinnerte mich an seinen besten Freund Tommy, in den ich zwei Jahre lang verknallt gewesen war. Manchmal hatte es Momente gegeben, in denen es zwischen uns geknistert hatte, aber da darauf gleich Kälte folgte, war ich mir sicher, mir das nur einzubilden. Natürlich, wer würde schon ein dickes, aggressives und so kindisches Mädchen wie mich jemals lieben?

Mit einem Seufzen verdrängte ich diese Gedanken. Heute war immerhin der erste Tag meines neuen Lebens oder so ähnlich.

“Es ist nett von Opa dich zu bringen”, merkte Rufus an, als ich das Ladegerät meines Handys aus der Steckdose zog und in die Seitentasche meines Rucksacks packte, bevor ich mich rücklings aufs Bett fallen ließ um zu warten.

“Mhm”, machte ich zustimmend und schloss die Augen. Ich glaubte nicht, dass ich irgendetwas hiervon vermissen würde. Freunde hatte ich nicht, Familie war mir auch nicht das Wichtigste. Höchstens meine Schwester würde ich vermissen, mit der ich mich besser denn je verstand.

“Wirst du alleine klarkommen?”, fragte ich Rufus und warf ihm einen kurzen Blick zu. Doch er lachte nur laut auf: “Ich komme auf jeden Fall besser klar als du.” Das tat weh. Weil es so wahr war. Ich war nicht unselbstständig in dem Sinne. Aber ich habe mich immer mehr auf andere verlassen als auf mich selbst. Vielleicht wollte ich auch deshalb unbedingt weg. Um zu beweisen, dass ich es eben doch konnte.

Ich sagte nichts auf die Worte meines Bruders. Ich kämpfte gegen Tränen, aber ich weinte nicht. Diese Genugtuung würde ich ihm nicht geben. Ich liebte ihn, aber in diesem Moment hasste ich ihn.

Ein Auto fuhr vor, mein Handy klingelte, Opa war da. Ich schulterte meinen Rucksack, nahm meine Ausgabe von Sturmhöhe in die Hand und umarmte Rufus flüchtig: “Bis bald. Werd dich vermissen.” Dann griff ich nach meinem Koffer und schleppte mich die Treppen nach unten. Mit freundlichen Worten verabschiedete ich mich von dem Ehepaar, das die Pension leitete, bevor ich mein vorübergehendes Zuhause verließ.

Meinen Großvater begrüßte ich mit einem etwas steifen Lächeln, hievte meinen Koffer in den Kofferraum und setzte mich auf die Beifahrerseite des Wagens. Er fragte, ob ich mich noch von meiner restlichen Familie verabschieden wollte. Kopfschüttelnd erklärte ich ihm, dass ich das bereits getan hätte. Und es war gar nicht gelogen, ich hatte ihnen eine Sms hinterlassen. Das war zwar nicht besonders persönlich, aber das störte mich nicht. Mein Familiensinn war in den letzten Jahren wohl ganz verloren gegangen, dachte ich damals. Im Unterschied zu heute war ich zu der Zeit aber noch sehr familiär.

Wir brachten die Autofahrt schweigend hinter uns, Opa konzentrierte sich auf die Straße, ich mich auf mein Buch. Hin und wieder blickte ich aus dem Fenster, um die rasch vorbeiziehende Landschaft zu betrachten. Nun wurde ich doch ein wenig wehmütig. Und ich wusste nicht wieso. Was ich zurück ließ war doch nur ein Haufen von Scherben. Ich wurde müde. Träge lehnte ich meine Stirn gegen die Fensterscheibe und versuchte so weiterzulesen. Bevor ich einschlafen konnte, kam der Wagen zum Stehen und mein Großvater verkündete, dass wir angekommen wären. Ich stieg aus und fing sofort an zu frieren. Es war allmählich am dunkel werden und ich trug nur ein Spaghettiträger Top und Dreivierteljeans. Eigentlich hasste ich diese Hose, weil ich so fett drin aussah, aber an dem Tag war mir das ziemlich egal. Den Koffer holte ich aus dem Auto und mein Buch stopfte ich in den Rucksack. Mit einer steifen Umarmung bedankte und verabschiedete ich mich von meinem Großvater und stand dann einige Minuten reglos auf dem Rasen und starrte das Gebäude an, das von nun an mein Zuhause sein würde.